Freitag , 29 März 2024
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Ein Sommertag in Wolfen und Bitterfeld

pegelturmAm fünfzigsten Jahrestag des Mauerbaus, am 13. August 2011, scheint die Sonne in Wolfen, dem ehemaligen deutschen Film- und Farbenfabrikstandort, der heute zu Sachsen-Anhalt gehört. Auf dem Parkplatz vor dem Hotel „Deutsches Haus“ stehen vorwiegend Autos mit nicht ortsansässigen Kennzeichen. Vor dem Hotel bildet sich eine rasch größer werdende Gruppe von meist weißhaarigen Männern und wenigen Frauen verschiedener Haarfarbe. Auch ich gehöre zu den letztendlich sechs Frauen und 30 Männern, die diesen Tag miteinander verbringen und sich an eine Zeit erinnern werden, die bereits einige Jahrzehnte zurückliegt.

Vor mehr als fünfundvierzig Jahren, im September 1965, begannen wir mit knapp 30 Anderen ein Chemiestudium an der nahen Halleschen Universität und schlossen dies zehn Semester bzw. fünf Jahre später mit dem Diplom ab. „Am Abend des Tages, an dem in Stockholm die Nobelpreise verliehen wurden, erhielten wir Studenten des Diplomjahres 1970 unsere Urkunden. Das geschah im beinahe hundertjährigen, ältesten Hörsaal der Chemischen Fakultät an der Mühlpforte. Hier hatte unser Studium begonnen, und wir hatten in dem hoch aufragenden Hörsaal mit seinen knarrenden Bankreihen und den Verzierungen in den Holztischen, die Generationen von Studenten darin eingegraben hatten, beinahe ehrfürchtig den Vorlesungen der Professoren gelauscht“, schrieb ich damals in mein Tagebuch.

Jetzt ist eine andere Zeit. Das Berufsleben liegt absehbar oder bereits vollständig hinter uns, das Land, in dem wir studierten, gibt es seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr und mit ihm sind auch die großen Chemiekombinate verschwunden. Einige wenige von uns lehren noch als Professoren, Dozenten oder Assistenten an verschiedenen Universitäten und Hochschulen, andere arbeiteten als Laborleiter in Krankenhäusern oder den eigenen klinischen Labors, die sie nun verkaufen oder bereits verkauft haben. Nicht wenige sind bis zum Ende im Chemiekombinat Bitterfeld-Wolfen geblieben, viele von ihnen wurden nach 1990 arbeitslos. Sie wurden zu Abfallwirtschaftlern, Umweltschützern, haben Softwarefirmen gegründet oder sind in den Umweltbereich der Landkreis-, Stadt- und Landesverwaltungen und Ministerien gegangen.

Aber das erfahren wir erst im Laufe des Tages, der mit einer Motorseglerfahrt auf dem Goitzschesee beginnt. Dass der See, auch Bernsteinsee genannt, aus dem ehemaligen Braunkohlentagebau Goitzsche hervorgegangen ist, wussten wir. Dass dessen Flutung aber bereits im Jahre 2002 abgeschlossen werden konnte, weil ein durch das damalige Muldehochwasser ausgelöster Bruch des Muldendammes die Goitzsche innerhalb von zwei Tagen um 7 Meter bis weit über den Sollpegelstand vollaufen ließ, wussten nur die Ortsansässigen. Seit 2005 ist der See für Wassersport und touristische Nutzung freigegeben und so fahren wir durch ein recht attraktives Erholungs- und Naturschutzgebiet. Das hätten wir uns während unserer Praktika im Chemiekombinat oder in späteren Zeiten, als nicht wenige von uns dort arbeiteten, beim besten Willen nicht vorstellen können!

Nachdem wir erste Fotos gemacht, erste längere Gespräche geführt und das Treiben auf dem See und dem Seeufer freundlich interessiert betrachtet haben, verlassen wir das Boot und finden uns alsbald in einem Restaurant am Seeufer ein. Während wir auf unser Essen warten, gibt es weitere Gespräche in anderer Runde. Ich freue mich zu hören, dass sich 1989/90 nicht wenige meiner ehemaligen Kommilitonen ebenfalls in der Friedlichen Revolution engagiert haben und auch danach noch politisch aktiv waren. Überhaupt ist die Stimmung unter uns freundlich und sehr entspannt und irgendwer meint dazu, dass wir wohl alle bereits altersweise wären. Was auch immer es ist, der Tag, den manche sicher skeptisch begonnen haben, wird immer heiterer, wir erfreuen uns an unserem Treffen nach so langer Zeit und an der Umgebung, die so unverhofft freundlich ist, das wir es noch immer nicht glauben wollen. Nach dem Essen laufen einige über eine Pontonbrücke zu dem auf dem See schwimmenden Pegelturm, besteigen dessen Wendeltreppe und betrachten das Treiben um sie samt See von oben. Wir anderen sind schon wieder im Gespräch und allmählich kommen die Erinnerungen zurück, aus einer Zeit, die viele von uns schon fast vergessen wähnten. Dabei denken wir auch an die, die nicht mehr unter uns sind und die wir dennoch nicht vergessen haben.

bitterfelder_bogenWieder beisammen, fahren wir zum Bitterfelder Bogen, einem 2006 von Claus Bury aus Frankfurt am Main geschaffenen Aussichtspunkt über die neu entstandene Kultur- und Seenlandschaft der Region Bitterfeld-Wolfen. Die metallene Bogenkonstruktion, die auf einer ehemaligen Hochkippe steht, leuchtet uns schon von Weitem entgegen. Im Zickzack-Kurs laufen wir über mehrere Rampen bequemen Schrittes nach oben und erleben in 28 Meter Höhe eine phantastische Aussicht: Auf der einen Seite liegt der See vor uns, umsäumt von grünen Baumkronen. Auf der anderen Seite liegt Bitterfeld und dazwischen die verschiedenen Industriestätten des ehemaligen Chemiekombinats. Auf den ersten Blick erinnert nichts mehr an die uns einst gut bekannte Gegend, nichts ist mehr von dem uns bekannten Geruch in der Luft, kein grauer, gelber, roter oder schwarzer Rauch steigt irgendwo empor. Die Dächer der Häuser sind rot, die Bäume grün und dennoch kommen die Erinnerungen: an den Schwarzen Weg, der vom Bahnhof ins Werk führte und auf dem wir die Augen zu Sehschlitzen verengen mussten, um die in der Luft befindlichen Rußpartikel von den Augen fernzuhalten. An weiße Hemden, die in Blitzesschnelle grau aussahen und an den Geruch, der an uns haftete wie das Pech an der Pechmarie. An gelbe und rote Männer und Frauen, die in den Azo- und Nitrofarbstoffwerken arbeiteten und die Farbe im Schlepptau über die Wege zur Kantine trugen. Und an den Spruch, der in einer früheren Zeit entstanden war und etwas anderes meinte als den Bitterfelder Dreck und Gestank der Chemieindustrie, den wir in unserer Jugend erlebten: „Sehn wir uns nicht in dieser Welt, dann sehn wir uns in Bitterfeld“ wurde unser bitterer Leitspruch in Bitterfelder Chemietagen.

Während wir unsere Erinnerungen austauschen, stehen wir an der metallenen Balustrade und lassen uns von denen, die in der Gegend noch immer zu Hause sind, die verschiedenen Betriebsteile des einstigen Chemiekombinats zeigen, die kaum noch zwischen dem Grün und Rot der Bäume und Häuser zu sehen sind. Wir sind beeindruckt von dem, was wir sehen und auch dem, was wir erinnern. In unsere Gefühle mischt sich Dankbarkeit und Freude darüber, dass wir das alles aus dem Abstand von Jahrzehnten in unserem jetzigen Leben noch einmal miteinander teilen können. In heiterer Stimmung fahren wir zum „Deutschen Haus“ in Wolfen zurück. Bevor wir gemeinsam zu Abend essen, betrachten wir Fotos von uns, als wir 18, 19 oder 20 waren und Chemie studierten. Wie jung wir damals waren und welche Hoffnung in unseren Gesichtern lag! Dann sehen wir die Fotos vom heutigen Tag: Wir sind nicht mehr jung, aber wir wirken überwiegend gelassen und heiter, eben altersweise. Die letzten Gespräche reichen bis weit in die Nacht und manch verschollen geglaubte Freundschaft wird vorsichtig wieder zum Leben erweckt. Wir sehen uns wieder, das ist sicher, egal, ob in Bitterfeld, Wolfen oder anderswo.

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