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Ungarisch-Deutsche Parallelgeschichten aus dem 20. Jahrhundert

nadas buchmesseVor einigen Wochen erschien der über 1700 Seiten umfassende, drei Bücher dicke Roman „Parallelgeschichten“ von Péter Nádas auch in Deutschland. Übersetzt hat das Buch aus dem Ungarischen ins Deutsche Christina Viragh, die dafür den Preis der Leipziger Buchmesse 2012 in der Kategorie Übersetzung erhielt.

Achtzehn Jahre schrieb Péter Nádas an dem in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Roman. Als er damit begann, nahm er sich vor, diesen ohne jede Zwänge und in vollkommener Freiheit zu schreiben. Entstanden ist ein Monumentalroman, in dem es keine Aufteilung in Haupt- und Nebenstränge, keine Haupt- und Nebenfiguren gibt. Nicht die Zeit selbst, sondern die Aufhebung der Zeit ist dem Autor wichtig. Alles geschieht gleichzeitig, in Parallelwelten neben- und durcheinander, vervielfältigt sich assoziativ und dehnt das Geschehen unendlich weit. Nichts fängt wirklich an oder endet, Figuren tauchen auf und verschwinden, um einige bis hundert Seiten später vielleicht wieder da zu sein. Oder deren Nachfahren, an einem anderen Ort, in Ungarn oder Deutschland oder anderswo. „Wir haben die Vorstellung, dass das Leben mit der Geburt anfängt und mit dem Tod endet, aber so einfach ist das nicht“, sagt Nádas auf der Leipziger Buchmesse im März, als er nach dem Grund für diese Art des Erzählens gefragt wird und fügt hinzu: „Es gibt keine Linearität, keine Chronologie. In der Minute meines Todes erlebe ich meine Geburt. Die Religion und die Künste haben das schon immer gewusst und so schreibe ich es.“

Die vielen, fast das ganze 20. Jahrhundert umspannenden, deutsch-ungarischen Parallelgeschichten werden in 39 Kapiteln erzählt. Der Roman führt von Berlin im Dezember 1989 nach Budapest im März 1961, in ein Konzentrationslager 1945 am Niederrhein und wieder nach Budapest im März 1961, wo er lange im Lukác-Bad und auf dem Schwulenstrich auf der Budapester Margareteninsel verweilt. Er führt nach Berlin-Dahlem im Jahr 1938, an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, in das Städtchen Mohács an der Donau und in ein Lebensborn-Internat im Erzgebirge, in dem an den Jugendlichen rassenkundliche Forschungen betrieben werden. Er kehrt immer wieder nach Budapest zurück, auch in den Oktober 1956, als die ungarische Revolution niedergeschlagen wird, Panzer durch Budapest rollen und nicht wenige Menschen ihr Leben verlieren.

Die handelnden Personen bewegen sich dabei ziemlich sprunghaft durch den europäischen Geschichtsraum der Nazi- und Pfeilkreuzlerzeit im „Dritten Reich“ und in Ungarn, der Judenverfolgung und -vernichtung und der Konzentrationslager bis an das Ende des Zweiten Weltkriegs sowie die darauf folgende Zeit des Kalten Kriegs zwischen Ost- und Westeuropa. Der Mauerfall 1989 wird noch erwähnt, die Veränderungen seitdem nicht mehr, können nur in Gedanken hinzugefügt werden.

Das erste Buch „Stumme Gefilde“ beginnt an einem frühen Morgen im Dezember 1989 in Berlin, wenige Tage vor Weihnachten. Der Student Carl Maria Döhring findet angeblich beim Joggen im Tierpark eine männliche Leiche und ruft die Polizei. Der herbeigerufene Kommissar legt mit seiner genauen Untersuchung und Beschreibung des Toten eine Spur, die uns im dritten Buch „Der Atem der Freiheit“, gemeinsam mit dem Kommissar, wieder zum Studenten Döhring und an den Niederrhein, in das Haus seiner Familie führt. Zu vermuten ist auch, dass der Tote Ágost Lippay ist, dem wir das erste Mal 1961 im Budapester Lukác-Bad mit seinen Freunden André Rott und Hans von Wolkenstein begegnen.

Zu Beginn des zweiten Kapitels des ersten Buchs klingelt in der Budapester Wohnung der ungarisch-deutsch-jüdischen Familie Lippay-Lehr endlos das Telefon, bevor die Hausangestellte Ilona Bondor endlich den Hörer abhebt. Am anderen Ende ist der Chefarzt des Krankenhauses, in dem das Familienoberhaupt Professor Lehr im Sterben liegt. Lehr ist der Mann von Erna Demén und der Vater von Ágost Lippay, er stand vor 1945 den Pfeilkreuzlern nahe und machte auch nach dem Krieg unter den Kommunisten Karriere. Im dritten Buch erfahren wir, dass kurz nach der Beerdigung von Prof. Lehr sein Sohn Ágost überstürzt Gyöngyvér Mózes heiratet, die er zwar nicht liebt, aber am Anfang ihrer Beziehung sexuell begehrt und deren vier Tage andauernden Geschlechtsakt Nádas im zweiten Buch sezierend genau und bis in die Obszönität hinein über mehr als hundert Seiten lustvoll beschreibt. Noch vor Antritt der gemeinsamen Hochzeitreise verschwindet Ágost jedoch spurlos aus der Abflughalle des Budapester Flughafens. André Rott, sein Vorgesetzter und Freund, der das Paar zuvor zum Flughafen gefahren hat, weiß, dass Ágost Lippay wichtige Dokumente für den bevorstehenden Eichmann-Prozess nach Israel bringen wird. Vermutlich werden die beiden Freunde sich nicht wieder begegnen, denn bevor Ágost verschwindet, hat André Rott ihn, Ágost Lippay, auch aus Karrieregründen an seine Vorgesetzten verraten.

Dem dritten Freund aus dem Lukác-Bad, Hans von Wolkenstein, begegnen wir ebenfalls im dritten Buch „Der Atem der Freiheit“ wieder, er ist einer der Jungen im Annaberger Internat Lebensborn und unehelicher Sohn der Baronin Karla von Thum zu Wolkenstein. Sein Vater ist Ungar und er gehört zu den Jugendlichen, an denen NS-„Wissenschaftler“ ihre Forschungen betreiben. Deren Ergebnisse im Dahlemer Institut landen, an dem auch Hans’ Mutter als Genetikerin arbeitet. In einem vorherigen Kapitel wird ein gemeinsames Mittagessen in der Dahlemer Villa des Chefs des Instituts, den Nádas nach dem Vorbild des realen Otmar Freiherr von Verschuer, eines Lehrers Josef Mengeles, entworfen hat, erzählt. Beim Lesen glaubt man, mit am Tisch zu sitzen, so erschreckend nahe und albtraumhaft schildert der Autor die Ereignisse aus dem Jahr 1938.

Bereits im zweiten Buch „In den Tiefen der Nacht“ erfährt der bei seiner Tante Erna Demén lebende, weil elternlose Kristóf, auf der Margareteninsel sein homosexuelles Coming Out. Zur gleichen Zeit treffen sich am anderen Ufer der Donau, in einer großräumigen Wohnung auf der Pester Seite, vier ältere Damen, die seit ihren gemeinsamen Lyzeumsjahren miteinander befreundet sind, zum Bridge-Spiel. „Noch in ihrem Abitursommer waren sie alle ins Ausland gegangen, und als sie nach einer Abwesenheit von mehr als zehn Jahren, schon mit Kindern, geschieden beziehungsweise verwitwet, allmählich nach Budapest zurücksickerten, sahen sie sich die erschreckende, alles durchdringende Veränderung sehr wohl an. Irma kam mit ihrem Mann und ihren stämmigen kleinen Jungen, den Zwillingen, aus Wien, etwas später Mária aus Rom, ein Jahr danach Bella aus Paris, in sehr schlechter seelischer Verfassung, ebenfalls mit einem kleinen Jungen, und zuletzt traf auch Margrit aus Berlin ein“, schreibt Nádas über die vier Freundinnen.

Als wir die Bridge-Runde kennenlernen, sind weitere Jahrzehnte vergangen. Die Jüdin Irma Szemzõ hat als Einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt, die Gastgeberin Mária Szapáry pflegt ihre nach einem Schlaganfall schwerbehinderte Geliebte Elisa Koháry, deren Schlaganfall einer kurz vor dem Ausbruch stehenden Schizophrenie zuvor gekommen war. „Sie kam nicht von dem Gedanken los, dass der Organismus in gewissen Fällen die seelische Katastrophe nur um den Preis einer physischen abzuwenden vermag. Wenn das aber so war, dann hatten die Ereignisse nicht nur einen Grund, sondern auch ein Ziel. Was zur törichten Frage führt, wer das alles lenkt, oder was das wäre, was ein Ziel hat. In diesem Fall hätte sie sich auch fragen müssen, wer ihre Kinder weggenommen hatte, und warum, und warum sie selber am Leben geblieben war, “ lässt Nádas die Psychologin Irma Szemzõ über die Ereignisse und ihre Zusammenhänge sinnieren.

Durch weite Teile des zweiten Buchs führt uns der junge, bisexuelle Kristóf Demén, der einzige, zeitweise Ich-Erzähler. Er gehört nirgendwo wirklich dazu, aber er beobachtet die Menschen um sich herum und beschreibt, was er sieht. Durch ihn erfahren wir, wie es in Budapest zur Zeit der Ungarischen Revolution im Oktober 1956 zugeht und wie in den Jahren danach. Er beschreibt auch die Kriegsversehrten, die in der Stadt noch lange Zeit präsent sind und sich durch seine Schilderungen in unser Gedächtnis eingraben: „Fast jeden Morgen sah ich einen Mann, der nur noch aus dem Rumpf bestand. Er schob sich zwischen den Beinen der Fußgänger auf einem Brett vorwärts. Mein Vater wäre ungefähr gleich alt gewesen, wäre er wenigstens in dieser Form am Leben geblieben. Wenn ich ihn sah, konnte ich nicht anders, ich musste mir ihn als meinen Vater vorstellen.

Wie Kristóf Demén hat auch Péter Nádas, geboren 1942 in Budapest, seine Eltern früh verloren. Die Mutter starb 1955 an Krebs, der Vater, ein Funktionär der Kommunistischen Partei Ungarns, erschoss sich drei Jahre später. „Der Tod war ständig da. Das hat mich geprägt. Außerdem die Aussichtslosigkeit der Diktatur: dieses Stillgelegte, Unlebendige. Da befasst man sich mit dem Tod auf andere Weise. Es dauerte Jahrzehnte, bis ich den ständigen Drang nach Selbstmord aus meinem Kopf austreiben konnte“, resümiert Nádas sein Leben vor 1989.

Péter Nádas’ Roman ist ein großes, eindringliches Panorama des Leids und der Entbehrungen, der Zerstörung und Vernichtung im vergangenen Jahrhundert, die sich durch das ganze Buch ziehen. Die ihren Anfang in der Nazizeit nehmen, sich durch den Zweiten Weltkrieg und seine Konzentrationslager ziehen und die nachfolgende Zeit des Kalten Kriegs auch in Ungarn wie im gesamten Warschauer Pakt prägen. Viele der handelnden Figuren haben historische Vorbilder, die KZ- und Lebensborn-Kapitel beispielsweise hat Nádas in Anlehnung an das Buch von Fritz Lettow „Arzt in den Höllen“ (Edition Ost, 1977) erzählt.

parallelgeschichtenDie sich ebenfalls durch den Roman ziehende, fleischliche Emphase, mit technisch übergenauen und häufig obszönen Beschreibungen der sexuellen Aktivitäten sowie mikroskopisch aufgezeichneten Beobachtungen der Körper und ihrer Geschlechtsorgane füllen allein Hunderte von Seiten. Nádas sagt dazu in Leipzig: „In unserem Leben spielen Sexualität und der eigene Körper eine zentrale Rolle, aber in der Literatur kommen beide nur am Rande vor. Das wollte ich ändern.“ Dem ist nicht viel hinzuzufügen, außer, dass manche dieser Schilderungen nicht gar so ausführlich hätten geraten müssen und dafür andere, sehr interessante Figuren und Geschichten, ein wenig hätten weiter geführt werden können. Wichtig wäre auch ein Personenregister gewesen, das auch im Begleitbuch (Péter Nádas lesen. Bilder und Texte zu den „Parallelgeschichten“, Rowohlt Verlag) nicht vorhanden ist.

Der Roman Parallelgeschichten ist im Rowohlt-Verlag erschienen und hat 1728 Seiten. Für 39,95 € ist es im Buchhandel oder direkt hier erhältlich.

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