Dienstag , 19 März 2024
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Junge im Rollstuhl

Der Duogynon-Skandal: An Risiken und Nebenwirkungen – will niemand schuld sein

Herzfehler, Wasserkopf, verkümmerte Gliedmaßen. Das sind nur einige der dramatischen Missbildungen mit denen in den 60er und 70er Jahren in Deutschland hunderte Kinder zur Welt kamen. Alle hatten etwas gemeinsam: Ihre Mütter hatten das Präparat Duogynon als Schwangerschaftstest verwendetet. Die Ausmaße dieses Pharmaskandals kommen erst langsam ans Licht. Wie der bayerische Rundfunk jetzt berichtet, wusste der Duogynon-Hersteller Schering (inzwischen Bayer) offenbar schon länger, dass das Mittel zu Missbildungen bei ungeborenen Kindern führen kann.

Und unternahm nichts!

Das Mittel Duogynon der Firma Schering war ein Hormonpräparat, das eigentlich als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden auf den Markt kam. Die Zusammensetzung: Progesteron und Östradiol. In den 60er und 70er Jahren wurde es jedoch gerne als praktischer, alternativer Schwangerschaftstest verwendet. Es war denkbar einfach: Die Frauen schluckten die Tabletten. Bekamen sie danach keine Blutung, wussten sie, dass sie schwanger sind. Was Duogynon bei den Föten im Bauch anrichtet, darüber dachte damals niemand nach. Mit fatalen Konsequenzen. Hunderte Kinder kamen mit dramatischen Missbildungen auf die Welt und müssen bis heute damit leben. Einer von Ihnen ist Andre Sommer aus Pfronten im Allgäu, den ,,das Erste“ für eine Dokumentation unter dem Titel „Der vertuschte Skandal“ begleitet hat.

Zwischen Ohnmacht und Wut

Behindertes KindAls Sommer 1976 in Füssen geboren wird, leidet er an einer Blasenekstrophie, einer seltenen Missbildung, bei der sowohl die Blase als auch die äußeren Genitalien nicht komplett ausgebildet sind. ,,Die Ärzte wussten nicht, was los war“, sagte Sommer der ARD. Sein Penis war verkümmert, die Blase außen am Bauch angewachsen. Die Ärzte damals: Völlig überfordert. Der Junge wird erstmal in eine Spezialklinik nach München gebracht. Seine Mutter bekommt kann ihr Neugeborenes erst drei Wochen später das erste Mal sehen.

Im Alter von sechs Jahren kann Andre Sommer operiert werden, seitdem muss er mit einem künstlichen Blasenausgang und einem Urinbeutel leben. ,,Besonders schlimm wurde es beim Sportunterricht oder beim Schwimmen“, erinnert er sich an seine Kindheit. Worauf seine Behinderung zurückzuführen ist, sagten seine Eltern ihm damals nicht. 15 Operationen musste Sommer laut dem Bericht insgesamt bereits über sich ergehen lassen. Und sein Leiden greift weit um sich: Seine Zähne sind durch Antibiotika gelockert. Für Versicherer gilt er als wandelnder Risikofaktor.

Erst im Alter von 33 Jahren erfährt Sommer, dass Duogynon für seine Missbildungen verantwortlich ist. Seine Eltern hätten ihm damals alte Unterlagen gezeigt, so Andre Sommer. Sommer gründet eine Selbsthilfegruppe und suchte andere Opfer. Er will nicht hinnehmen, dass sein Leiden und das hunderter anderer Opfer weiter todgeschwiegen wird. 2010 will er vor Gericht durchsetzen, dass der Pharmakonzern Bayer ihm Aktieneinsicht gewährt. Doch Bayer verweist darauf, dass die Geschichte längst verjährt sei und beharrt zudem darauf, dass ein Zusammenhang zwischen den Missbildungen und der Einnahme von Duogynon nie bewiesen wurde. Das Gericht lehnt Sommers Forderung ab und stellte sich auf die Seite des Unternehmens.
,,Es ist eine Mischung zwischen Ohnmacht und Wut“, sagt Sommer. Verbittert ist er deswegen nicht. Im Gegenteil. Sommer ist dankbar, dass seine Genitalien nachgebildet werden konnten. Den Ärzten ist es zu verdanken, dass Sommer 2010 sein persönliches kleines Wunder in die Arme schließen konnte: Sohn Hannes wurde geboren. Inzwischen hat der Grundschullehrer zwei Kinder. Er ist nicht in erster Linie auf eine Entschädigung aus. Er will Aufklärung und Gerechtigkeit, wie so viele andere Duogynon-Opfer. Bei einer Demonstration am Brandenburger Tor in Berlin kämpften die Opfer kürzlich erneut für ihr Recht. Sie wollen, dass endlich jemand die Verantwortung übernimmt.

Sommer betreibt im Internet die Seite www.duogonopfer.de. Dort informiert er über seine Erkenntnisse und ermuntert andere Geschädigte, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Auf der Seite findet man auch eine Übersicht über Duogynonschädigungen. Es sind, so heißt es auf www.duogynonopfer.de, Meldungen, die nach mehr als 30 Jahren gemacht wurden und in insgesamt über 11.000 E-Mails mitgeteilt wurde.

Demnach wurden folgende Missbildungen gemeldet:
  • 141 Skelettale Missbildungen wie LKG Spalte oder offener Rücken
  • 66 innere Schäden und Organschäden die unter anderem Herz, Ohren, Augen oder etwa einen offener Bauch umfassen
  • 64 urologischen Schäden, also Schäden der Ausscheidungsorgane wie etwa eine Blasenekstrophie
  • 58 Todesfällen – dazu gehören sowohl Meldungen über Fehlgeburten und gewollte Abtreibungen als auch Babys die an ihren schweren Missbildungen starben
  • 26 Gehirnschädigungen wie zum Beispiel Wasserkopf.

Es müsse allerdings noch wesentlich mehr Fälle gegeben haben, heißt es auf der Seite.

Nachtrag: Auf Grund der Dokumentation hat die Seite von Sommer soviele Besucher das diese oft offline ist. Hier https://web.archive.org/web/20161001213439/http://duogynonopfer.de/ können Sie sich die Seite ebenfalls ansehen und alles lesen.

Vertuscht und todgeschwiegen

Laut bayerischen Rundfunk sind jetzt Akten aufgetaucht, die beweisen, dass Schering damals von den Nebenwirkungen wusste. Doch Duogynon verkaufte sich bestens und bescherte dem Unternehmen Millionengewinne. Eine Tatsache, die für den Pharmakonzern offenbar schwerer wog, als das Leiden hunderte schwerstkranker Kinder. Das Präparat wurde weiter vertrieben, auch nachdem 1967 Studien erstmals einen Zusammenhang zwischen Duogynon und Missbildungen feststellen. In England wird das Mittel damals verboten. In Deutschland nicht. Nach Recherchen des BR-Politikmagazins Kontrovers hat Schering damals einen gewichtigen Helfer: das Bundesgesundheitsamt, das eigentlich für Arzneimittelsicherheit zuständig war. Die Behörde entschied im Interesse des Konzerns und verhinderte ein Verbot des Medikaments in Deutschland. Das Gesundheitsamt sei damals seinen originären Aufgaben die Arzneimittelsicherheit zu überwachen und zu garantieren nicht ansatzweise nachgekommen, sagt Sommers Anwalt Jörg Heynemann. Ein Mitarbeiter der Behörde bezeichnete das Gesundheitsamt sogar als „Advokaten von Schering„.

Eine Chronik zeigt, wie lange der Skandal bereits im Stillen schwelt. Die Daten hat Andre Sommer auf www.duogynonopfer.de gesammelt:

1950: Duogynon kommt auf den Markt.
1960: Bereits jetzt gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass es trotz Schwangerschaft zu Blutungen kommen kann.
1967: Der Forschungsdirektor von Schering Chemicals Ltd – die britische Schering-Tochter findet heraus, dass bestimmte Missbildungen bei Neugeborenen besonders oft in Regionen auftauchen, in denen häufig Duogynon verkauft wird (In England unter dem Namen Primodos). Die Zentrale in Berlin wird von der britischen Tochter auf mögliche Schwierigkeiten hingewiesen.
1969: Schering verschickt eine Broschüre an britische Ärzte. Darin heißt es, dass eine bestehende Schwangerschaft durch eine Primodos Einnahme nicht beeinträchtigt werde.
1970: In Großbritannien wird Primodos als Schwangerschaftstest verboten.
1970: In Großbritannien warnt die Arzneimittelkommission vor Primodos.
1971: Erstmals warnt das „Arznei-Telegramm“ in Deutschland davor, in der Frühschwangerschaft Mittel mit Gestagen-Östrogen einzunehmen.
1972: Schering streicht die Indikation Schwangerschaftstest für Duogynon in Deutschland. Allerdings nur für Dragees. Als Injektion wird Duogynon weiter als Schwangerschaftstest empfohlen. Die Injektionsform wurde chemisch verändert und damit angeblich unschädlich gemacht.
1975: Jetzt warnt die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, dass Schwangere kein Duogynon anwenden sollten. Schering empfiehlt aber weiter den Gebrauch als Schwangerschaftstest. Das Bundesgesundheitsamt lässt zu, dass das Präparat weiter an Schwangere ausgegeben wird.
1978: In Großbritannien wird das Mittel aus dem Verkehr gezogen. In Deutschland nimmt Schering nur die Empfehlung als Schwangerschaftstest zurück. Später benennt das Unternehmen das Mittel in „Cumorit“ um und gibt auf der Packung den Hinweis, dass es nicht bei schwangeren Frauen eingesetzt werden soll.
1980: Schering stellt die Produktion von Cumorit ein.
1981: Cumorit wird hierzulande aus dem Handel genommen.

Trifft die Ärzte eine Mitschuld?

Es ist ein Skandal, der seinesgleichen sucht und doch so lange im Verborgenen blieb. Denn während der Contergan-Skandal (1968-1970) damals in aller Munde war und bis heute nicht vergessen ist, haben viele von den Problemen mit Duogynon noch nie etwas gehört. Doch trifft die Schuld allein die Hersteller? Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft warnte im Deutschen Ärzteblatt vor dem Medikament. In England wurde es verboten, danach auch in anderen Ländern. Die Medien berichteten darüber. Doch Frauenärzte verschrieben das Mittel scheinbar unbeeindruckt weiter. Trifft sie auch eine Verantwortung?

Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Duogynon damals auch noch in anderer Funktion, ,,unter der Hand“ abgegeben wurde: als Pille danach. Denn das Mittel löste sofortige Blutungen aus. In Deutschland war eine Abtreibung damals kaum legal denkbar: der Paragraf 218 war in aller Munde. Viele Frauen in verzweifelten Situationen waren also sicher dankbar für eine so einfache Lösung. Funktionierte der Abbruch durch Duogynon nicht und gebar die Frau am Ende ein missgebildetes Kind – ist es ihr zu verdenken, dass sie lieber schwieg, als an die Öffentlichkeit zu gehen oder ihr eigenes Kind einzuweihen?

Schweigen statt Verantwortung

Bayer wollte zu den neuen Enthüllungen keine Stellungnahme abgeben. Doch die Opfer haben genug: Sie streben jetzt eine Sammelklage an. Und wollen erreichen, dass nach Jahrzehnten endlich jemand Verantwortung für ihr Leiden übernimmt.

Bildernachweis:
Junge im blauen Rollstuhl > Urheber: JarenWicklund / 123RF Lizenzfreie Bilder

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