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Über Zeiten des abnehmenden Lichts

eugen_rugeUpdate: Das hier besprochene Buch wurde am 10.10.2011 mit dem Deutschen Buchpreis 2011 ausgezeichnet. Unser herzlicher Glückwunsch geht an Eugen Ruge!

Der Autor Eugen Ruge hat seinem Debütroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ nicht nur einen wunderbaren und melancholisch schönen Titel gegeben. Mit seiner wechselvollen deutschen Familiengeschichte, die erzählend einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten umfasst, wurde er für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominiert und steht mittlerweile auf der noch sechs Autoren umfassenden Shortlist. Die Rezensenten schwärmen bereits: Die Zeit schreibt vom großen DDR-Buddenbrooks-Roman. Die Tageszeitung beschreibt den Roman als gelassen, umsichtig, souverän … ein Roman, der die DDR wirklich hinter sich lässt und die Süddeutsche Zeitung meint: Die Zeit ist reif für diesen unverstellten, humorvollen und einfühlsamen Blick.

Ich glaube ebenfalls, dass die Zeit für einen unverstellten Blick reif ist, jedenfalls für die Generation, zu welcher der heute 57-jährige Autor und auch ich gehören. Einerseits haben wir unsere Kindheit und Jugend und auch einen Teil unseres Erwachsenenlebens in der DDR zugebracht, diese also bewusst erlebt und zunehmend erlitten. Andererseits leben wir mit unseren sehr anderen Biografien und Erfahrungen seit über zwanzig Jahren in Gesamt-Deutschland. Aus dem Abstand, der durch die inzwischen vergangene Zeit und die veränderte politische und gesellschaftliche Realität entstanden ist, beginnen wir mehr und mehr, unsere eigenen, individuellen Geschichten und die Geschichten unserer Familien zu erzählen. Und die fangen nicht selten noch vor dem Zweiten Weltkrieg an, als viele der bis 1933 politisch Aktiven auch in unseren Familien aus Deutschland emigrieren mussten, um ihr eigenes Leben zu retten. Oder in Konzentrationslagern landeten, aus denen sie mit viel Glück 1945 befreit wurden. Andere wiederum wurden erst in den Jahren nach 1945 interniert oder in die Sowjetunion verschleppt und manche von ihnen kehrten nicht wieder zu ihren Familien zurück.

In Slawa wurden jetzt die Kartoffeln gemacht, die ersten Feuer rauchten schon, das Kartoffelkraut brannte, und wenn erst mal das Kartoffelkraut brannte, dann war sie gekommen: die Zeit des abnehmenden Lichts, erinnert sich die aus dem Ural stammende Nadeshda Iwanowna an ihre Heimat. Da lebt sie schon eine Weile in der DDR, in der Nähe von Potsdam, bei ihrer Tochter Irina und ihrem Schwiegersohn Kurt. Kurt und Irina sind die Eltern von Alexander, der Hauptfigur des Romans, der an diesem Tag, dem 1. Oktober 1989, die DDR verlassen hat und sich irgendwo aus Westdeutschland telefonisch bei seinen Eltern meldet. Die an diesem Tag bereits auf ihn warten, denn sein Großvater Wilhelm feiert seinen 90. Geburtstag. Doch Alexander ist unerreichbar weit von ihnen entfernt und seine Mutter Irina wird sich an diesem Tag vor Kummer betrinken.

Auch Eugen Ruge ist im Ural geboren, im Jahr 1954. Als er zwei Jahre alt war, sind seine Eltern mit ihm in die DDR zurückgekehrt. In den 70igern hat er an der Humboldt-Universität Mathematik studiert, danach zuerst in seinem Beruf und später beim DEFA-Studio für Dokumentarfilm gearbeitet, bevor er 1988 die DDR verließ. Seit 1989 arbeitet er für Theater und Rundfunk als Autor und Übersetzer. Sein Vater ist der 2006 verstorbene Historiker Wolfgang Ruge, dessen Lebenserinnerungen Berlin – Moskau – Sosswa. Stationen einer Emigration 2003 bei Pahl-Rugenstein Nachfolger erschienen sind.

Eugen Ruges Roman, der von 1952 bis in den September 2001 reicht, erzählt aus wechselnden Perspektiven von fast vier Generationen einer Familie. Dabei steht im Zentrum das Fest zum 90. Geburtstag des Familienpatriarchen Wilhelm, eines Kommunisten, wie es sie in der DDR unter den ganz Alten noch häufig gab: nicht sehr gebildet und auch nicht besonders klug, aber mit festem politischen Glauben. Wir erfahren vom mexikanischen Exil, in dem Wilhelm und seine gebildete, mehrsprachige Frau Charlotte gelebt haben, dem Leben in der Sowjetunion von Kurt, Irina und Nadeshda Iwanowna und dem Leben aller in der DDR, Alexanders Sohn Markus und dessen Mutter einbegriffen. Ruge lässt seine Figuren einmal aus den verschiedenen Perspektiven am Tag des Familienfests reden, die anderen Male aus längst vergangenen Zeiten des Exils oder des Neuanfangs in den 50igern, aber auch aus dem täglichen Leben der Protagonisten. Dazu kommt Alexanders Geschichte aus dem Jahr 2001, in der von seiner beginnenden Krankheit und seiner Reise nach Mexico erzählt wird, in die Vergangenheit seiner Großeltern und auf der Suche nach sich selbst. Den einzelnen Figuren begegnet der Autor dabei einfühlend, manchmal auch liebevoll, besonders den Frauen gegenüber, was mich sehr für ihn einnimmt.

zeiten_des_abnehmenden_lichts_coverIn Zeiten des abnehmenden Lichts ist ein phantastischer Erinnerungsroman in die Zeit der DDR und doch weit über diese hinaus. Durch die verschiedenen Erzählperspektiven, die unterschiedlichen Charaktere und deren ganz eigene Geschichten zieht sich wie ein roter Faden das, was mittlerweile nur noch als Utopie des Sozialismus zu bezeichnen ist und deren lange schon, auch in den einzelnen Figuren sichtbares und absehbares Scheitern.

Es wird nicht der letzte Roman über das Leben im Exil nach 1933 und danach in der DDR sein und es ist gut, dass auf diese Weise die noch immer spürbaren Lücken in der Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wenig geschlossen werden können. Doch alle kommenden Geschichten werden sich an der von Eugen Ruge erzählten messen lassen müssen.

In Zeiten des abnehmenden Lichts ist im Rowohlt-Verlag erschienen und hat 426 Seiten. Für 19,95 € ist es im Buchhandel oder direkt hier erhältlich.

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